Tatjana Doll

WAITING IS A DRUG
15.12.2022 – 31.03.2023

Wartehallen, Bahngleise, U-Bahnsteige, Fußgängerüberwege. Wir alle kennen das. Rumstehen. Das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagern und wieder zurück.
Endlich mal Push-Nachrichten lesen, die mit EIL überschrieben sind und die man sonst – trotz ihrer eindeutig signalisierten Dringlichkeit – wie eine nervige Fliege wegwedelt.
Während man rumsteht in den Minuten zwischen dem Losfahren und dem Ankommen, stellt man sich vor, wie das Leben sein könnte. Träumt Tagträume, in denen Orangenbäume vor Fenstern blühen und in denen man seine Zeit nicht mit Warten verbringt, sondern jede Minute gefüllt ist mit zarter und dennoch bestimmter Sinnhaftigkeit.

Der Mensch verbringt im Schnitt 374 Tage seines Lebens damit zu warten.
Man wartet darauf, von einem Ort zum anderen zu kommen. Auf das nächste Erlebnis. Auf alles, was passieren wird. Alles, was passieren könnte. Man wartet auf die Zukunft.

Die schmalen, mit Leinwand bespannten Holzlatten, die sich an der Wand des Ausstellungsraums bei Grzegorzki entlangziehen, verkörpern mit absolut reduzierten Mitteln einen ganzen ICE. Den Intercity-Express.
Tatjana Doll hat den Zug eingeschmolzen und ihn auf sein wesentlichstes Merkmal reduziert: den roten Streifen auf weißem Grund.

Aber erinnern wir uns. Am 2. Juni 1991 begann in Deutschland die Zukunft. Zumindest, wenn man Zukunft mit Schnelligkeit verbindet. Das Hochgeschwindigkeitszeitalter brach an und die weißen Züge mit dem roten Streifen rasten durch die Bahnhöfe Deutschlands und ließen die Frisuren der staunend bei der Durchfahrt am Gleis Stehenden verwuschelt zurück. Als Verheißung ist der ICE eine Zeitkapsel, in die man einsteigt und dann mit einem irrsinnigen Tempo an einen anderen Ort entschwindet. Der ICE war nichts weniger als die Zukunft, auf die alle gewartet hatten. In dieser Zukunft sollte man die Strecke zwischen, sagen wir Köln und Hamburg so schnell zurücklegen, dass man gar nicht dazu kam, sich einen Kaffee im Bordbistro zu bestellen; weil man schon angekommen war, ehe man sich hätte setzen können. Theoretisch oder in der doch immer waghalsigeren Fantasie zumindest. In der Realität hatten die Fahrgäste stets hart gekochte Eier und ihren eigenen Kaffee, den sie aus Thermoskannen tranken, dabei und große Aufregung im Gepäck. Mit der Schnelligkeit des Zuges kam keine Souveränität über die Reisenden.

Und auch wenn die Reisenden routinierter geworden sind, hat die Bahn jetzt gerade keinen guten Stand. Man wartet und keiner kommt. Dann kommt ein Zug, aber die Heizung ist ausgefallen und man friert. Oder die Heizung lässt sich nicht ausstellen und man schwitzt. Man bleibt wegen Signal - oder Weichenstörungen stundenlang auf der Stelle stehen und verpasst den Anschluss. Es schneit und der Zug ist überrascht. Wir haben im letzten Jahr gelernt: Es gibt tausend Gründe, warum ein Zug nicht fahren kann.
Irgendwie scheint das Versprechen von Zukunft, das 1991 gemacht wurde, sich nicht eingelöst zu haben. Oder es war so schnell, dass es sich selbst überholt hat. Damals, als der ICE noch eine wirkliche Neuerung war.

Dabei ist der Zug mit dem Anerkennen der Klimakatastrophe wieder zum Fortbewegungsmittel der Zukunft geworden.
Für den Slogan “Act Local Think Global” wäre der ICE der perfekte Werbeträger.
Der Zug vereint die radikalen Gegensätze von absoluter Lokalität und dem Wunsch und Traum nach der Ferne. Eine eigentlich wünschenswerte Kombination.
Das Flugzeug erzählt nur noch lakonisch und erleichtert von einer vergangenen Zeit, in der sich Partytouristen ohne Hotelbuchungen (weil sie ja eh das ganze Wochenende wach sein würden) Sternburg-Bier trinkend durch die Stadt und ihre Nächte gleiten ließen.
Der Einzige, der noch nicht verstanden hat, dass Last und Hoffnung der Zukunft nun wieder auf seinen Schultern lasten, ist der ICE selbst. Und das, obwohl die Deutsche Bahn versucht, sich und den ICE fit zu machen für die Zukunft. Zum Beispiel mit der Aktion “Female ICE”.
Am 11. Mai 2022 fuhr der erste “Female ICE” durch Deutschland. An Bord dieses Zuges arbeiteten ausschließlich Frauen. Um zu zeigen, dass die Bahn ein toller Arbeitgeber für Frauen ist. Der gebrandete Zug ist jetzt als Aquarellzeichnung auf der Einladungskarte für Tatjana Dolls Ausstellung zu sehen. Der doch sperrige Untertitel der Kampagne lautete: “Bewegende Frauen am Zug”. Die Kampagne zeigt, dass sich die Bahn zumindest Gedanken macht, um das, was da in Zukunft passieren soll und wer da künftig arbeiten soll. Ob die Zugfahrt mit 50 Sondergästen an Bord auch etwas anderes als die 50 Sondergäste bewegt hat, ist eine andere Frage.

Die Arbeit von Tatjana Doll ist von 1999. Es ist keine akkurat gezogene rote Linie auf weißem Grund. Vielmehr ist es fast so, als hätte sich Doll mit einem Pinsel ans Gleis gestellt und den Arm rausgehalten, während der weiße ICE vorbeigerollt ist.
An manchen Stellen bilden sich Verdickungen, an denen die Farbe verklumpt ist und sich vermischt. Wie Erdbeeren in Quark. Wie Geröll auf dem Mond.

1999 war die Welt noch eine andere. Der ICE war die Zukunft und derjenige, der darin saß, war noch viel öfter ein aufgeregter Reisender und keine genervte Geschäftsfrau. Es gab keine Steckdosen in den Zügen, weil niemand einen Laptop hatte. Der Mensch arbeitete noch im Büro an großen Bildschirmen, mit pfeifenden Rechnerlüftungen unter dem Tisch. Home-Office war kein Begriff, der Einzug gefunden hatte in das stete Leben der Angestellten, die heute im Zug emsig auf den Tastauren tippen und das Geräusch des Reisens für immer verändert haben. Diejenigen, die Zug fuhren, waren auf dem Weg in die Zukunft, auf dem Weg zum nächsten Erlebnis. Mit genug Zeit, um beim Warten von Orangenbäumen träumen zu können. Und heute? Heute wird mehr gewartet. Doch das ist vielleicht gar nicht schlimm.

Denn wie heißt es so schön im Titel?
Waiting is a Drug.

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