Lionel Esteve
JOLIE PLUIE
18.03.2022 – 15.05.2022
Für einen Regenbogen braucht es Regen
Und auch Sonne
Ob es eine Vorahnung war? Als ich am 8. Oktober 2019 in Berlin eintraf, schickte ich folgende SMS an Gregor Hildebrandt, den Gründer von Grzegorzki Shows:
„Ich bin in Berlin
Schöne Regen
Tschüss“
Ich war zufrieden mit mir. Ich fand es exotisch und lustig, eine Nachricht auf Deutsch zu verschicken. Eine Weile danach beschloss ich aus naheliegenden Gründen, die ich weiter unten erläutern werde, diese Ausstellung „Schöne Regen“ zu nennen. Mit der gleichen Sehnsucht nach Exotik und zur Freude der Berliner schlug Gregor mir vor, diese Ausstellung „Jolie pluie“ zu nennen.
Vielleicht wollte ich mit diesem Lob auf den Regen Gerechtigkeit wiederherstellen, ein Versäumnis wiedergutma- chen. Während der Regen doch oft vom Himmel fällt, können wir uns fragen, weshalb er in der Malerei und der Kunst im Allgemeinen nur so selten dargestellt wird. Selbst Aquarelle huldigen lieber der Sonne. Natürlich, da ist seine Musik, plick plock plick. In der Malerei wird der Regen mit der Sintflut assoziiert, und bis vor Kurzem waren Überschwemmungen viel gefürchteter als Feuersbrünste.
Natürlich weiß ich, dass der Regen ein häufiges Phänomen ist, aber er wird nicht überall gleich wahrgenommen, und ich glaube, dass er zunehmend als Segen empfunden werden wird.
Ich bin in Frankreich aufgewachsen, wo der passende Ausdruck für einen banalen Small Talk wörtlich „über den Regen und das schöne Wetter sprechen“ lautet. Der Regen ist darin nur ein vorübergehendes Ereignis. Inzwischen lebe ich in Belgien: Hier ist der Regen eine Religion. Ein allmächtiger Gott, nicht zwingend stürmisch oder majes- tätisch, aber ein Gott mit vielen Gesichtern: vom Nieselregen bis zur peitschenden Ohrfeige. Hier kann man nicht von einem unbeständigen Wetter reden, es ist im Gegenteil leider sehr beständig: Regenwetter eben. Ich schreibe diese Zeilen am 27. Dezember 2020 in Bxl (Brüssel), nachdem es seit vier Tagen ununterbrochen regnet.
Steckt irgendein Trauma dahinter, wenn meine Arbeit sich so oft auf einen meteorologischen Zustand bezieht, wenn Wasser und Regen darin eine so wichtige Rolle spielen? Rührt von dieser Faszination vielleicht der Wunsch her, den Blick nicht innehalten, ihn vordringen zu lassen, eine Bewegung zu schaffen? Ich wollte eine diskrete, subtile, durch- sichtige Anwesenheit spürbar machen, die sich nicht aufdrängt. Und ich habe versucht, mich flüssigen Körpern zu nähern und das Formlose zu erfassen.
Da ich diese Arbeit noch nie installiert habe, kenne ich „Jolie pluie“ noch nicht. Aus feinen, gebogenen und an- schließen bemalten Stahlstäben haben wir ungefähr 3.000 tropfenförmige unterschiedlich große Teile mit verschie- denen Farben angefertigt. Jeder Tropfen hat zwei Farben, eine matte und eine kräftige. Sie werden hier und da an den Wänden der Ausstellungsfläche befestigt, an Nadeln, damit sie zittern und einem Regenvorhang ähneln, einer Haut mit glitzernden Schuppen. Ich hoffe, dass sich ein komplexes, irisierendes Spiel der Farben entwickeln wird, dass die Schwingungen an einen Regenbogen denken lassen.
Der Raum von Grzegorzki Shows ist klein, und die Wände werden vollständig bedeckt sein. Ich würde mir wünschen, dass diese Installation etwas Verzaubertes hat, wie die Malerei in einer winzigen Kapelle, die trotzdem weite Räume evoziert. Ich weiß nicht, ob man die Parallele zu einem Wassertropfen ziehen kann: Dort lässt sich die gleiche Umkeh- rung beobachten, ein winziger Raum, der visuell seine ganze Umgebung aufnimmt, in dem sich alles spiegelt, was er umfasst. Auf das Risiko hin, zu explizit zu werden, könnte man vielleicht eine tropfenförmige Glasperle in der Raum- mitte aufhängen – je nachdem, wie anspielungsreich die Installation ausfallen soll.
Mir gefällt auch die Idee, dass diese Tropfen einem beweglichen Graffiti gleichen, quasi das Gegenteil eines Werks in situ. Dass sie, genau wie der Regen, vergänglich sind und sich mit dem Wind hin und her bewegen, dass sie über- all ein bisschen zuhause sind, sogar an mehreren Orten gleichzeitig, dass sich ein Wetterbericht auf diese Weise wie das Programm zu einer Ausstellung lesen lässt – und umgekehrt.
Lionel Estève
(Übersetzung: Nicola Denis)

